Von Christian Schröder

Im Pop gibt es einen Trend zu noch mehr Automobilität. Tocotronic haben einen Song aufgenommen, der von einer Fahrt durch die Nacht erzählt. Und der singende Trucker Winni Bergmann schafft es mit schmachtenden Operetten-Versionen in die Charts. Wo soll das musikalische Auftanken und Abfahren noch hinführen?

Zwischen Automobilen und Songs besteht, das zeigen hundert Jahre Popgeschichte, eine enge Wahlverwandtschaft. Beide sind Transportmittel und beide benötigen Treibstoff. Autos transportieren Menschen, Songs Sehnsüchte. Und während Autos von Benzin angetrieben werden, brauchen Songs Schmerz, Leidenschaft und Sprachwitz, um voranzukommen. Nimm mich mit, Sänger/Sängerin, auf die Reise.

Die schönsten Zeilen aus dem neuen, roten Album der Hamburger Band Tocotronic lauten: „Ich bin die ganze Nacht gefahren / Um dein Gesicht noch mal zu sehen.“ In ihnen steckt ein ganzer Roman, ein bleifußgetriebenes Melodram um Trennung, Aufbegehren und übergroße Liebe. Heißt „noch mal sehen“, dass sich die Protagonisten nie wieder sehen werden? Und wohin ist der Ich-Erzähler überhaupt unterwegs, weit weg in die Fremde, in einen Krieg oder nur zurück zu Frau und Kindern? „Chaos“, so heißt das Lied, fährt per Anhalter durch die Rock’n’Roll-Vergangenheit, zitiert die Schmachthymne „I drove all Night“ des Falsettstimmen-Elvis Roy Orbison und den Großraumdiskothekenschlager „Ich bin die ganze Nacht gefahren“ von Christian Anders.

Weitere Ausfahrten an der Autobahn durch dieses Archipel des Abfahrens und Auftankens heißen „Hit the Road Jack“ (Ray Charles) „Truck Driving Man“ (Boxcar Willie) und „30 Tonnen Kerosin“ (Jonny Hill). Wenige Worte genügen, um zu wissen, wo es jeweils lang geht. Zu manchen Refrain fehlt aber noch die Musik. Im Notizheft des Arbeiter- und Countrysängers Gunter Gabriel steht die Zeile „Du kannst schlafen, während ich fahr“. „Was für eine geile Zeile! Man will wissen, was sich für eine Geschichte dahinter verbirgt. Ist das eine Männer- oder eine Frauenzeile? Eine Frauenzeile, das muss eine Frau singen. Du kannst mir vertrauen, ich bring dich nach Hause. Das heißt im übertragenen Sinn: Ich bring dich gut durchs Leben.“

Ein Lied fährt um die Welt. Am Steuer sitzt Winni Biermann aus Bocholt, der als „singender Trucker“ gerade den Sprung in die deutschen Charts geschafft hat. Der Berufskraftfahrer, der Baustoffe durch NRW transportiert, wurde von einem Reporter auf einem Weinfest entdeckt und bekam bald darauf einen Vertrag bei einer großen Plattenfirma. Der fernfahrende Tenor liebt die Operetten der Vorkriegszeit, seine Versionen von „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n“ oder „Dein ist mein ganzes Herz“ huldigen einer untergegangenen Welt. Inzwischen tritt Winni Biermann im Fernsehen auf, singt aber auch weiter in seinem Fahrerhaus. „Ein Lied geht um die Welt / Das Lied bleibt in Ewigkeit“.

Quelle: Tagesspiegel: http://www.tagesspiegel.de/kultur/roadsongs-von-tocotronic-und-winni-biermann-letzte-ausfahrt-hitparade/11778766.html